Dienstag, 21. Mai 2013

Bespringende Buchschönheit

Die Pirckheimer-Gesellschaft

Brechts „Berichtigungen alter Mythen" betrifft jemanden, der die schöngepriesene nackte Gattin eines lydischen Königs sah, doch wenig hingerissen war. Da die Frau stolz Selbstmord begeht, bezweifelt Brecht, ob jener ausschließlich ihre Schönheit an sich beurteilt hat, sondern eher die im Liebesakt für sich erlebte, die er persönlich wenig begehrenswert fand.
Keine Auffassung von Schönheit kann für alle gelten. Die Frage nach der Schönheit eines Buches lässt mich auf den Grund zeigen, der mich mit dem Buch verbindet. Oder für die Pirckheimer-Gesellschaft gefragt, müsste ich 440 Mitgliedsauffassungen vorstellen, mit denen Bücher gesammelt werden: illustrierte Bücher, Stamm-, Mini-, Kochbücher, Almanache, Exilliteratur, Arabica, Judaica, Sozialistika, Erotika, Insel-Verlag, Malik-Verlag, Buchkunst, deutsche Minderdichter, alles von und über Bertolt Brecht, Günter Kunert und vieles mehr. Sammler, die sich für 90 EUR jährlich an vier Marginalien, einer bibliophil gestalteten Zeitschrift, an Jahresgaben, wie Almanache mit Jubelrufen aus Bücherstapeln, erfreuen können, Erkenntnisse gewinnen und in anregenden Zusammenkünften vertiefen. Freunde von Antiquariaten, wo mir einmal eine dreißigseitige Broschüre in die Hände fiel, die ich, obwohl sie aus dem Halt geraten war, wegen meiner Liebe zur Mythologie erwarb: Kentaur von Maurice de Guerin (1810-1839), übertragen durch Rainer Maria Rilke. Der Insel-Verlag ließ die deutsche Erstausgabe 1919 bei Poeschel & Trepte in Leipzig in der Winckelmann-Antiqua drucken, der „rationalen und feinfühligen Typographie" (Axel Bertram), mit einem Schriftblock in schönem Maße und dem Schiff-Signet vom Engländer Eric Gill. Besonders begeisterte mich die Einzigartigkeit des Büchleins vom fast unbekannten, früh hingegangenen Dichter wegen seines Kentauren, der von wilden Stuten erzählt, die von Winden besprungen werden. Aus den Büchern weht gleichnishaft ein frischer geistiger Wind über schöne Gestaltung herüber, bespringt uns und gebiert Überlegungen.
(Peter Arlt, Palmbaum Heft 1/2013)

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